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Interview mit Karin Holenstein (Protalk)

Interview mit Karin Holenstein (Protalk)

Karin Holenstein, als Geschäftsführerin und Inhaberin von www.protalk.ch befasst Du Dich oft mit neurodidaktischen und neurolinguistischen Methoden. Wie bist Du dazu gekommen?

Im Jahr 2001 haben mein Mann und ich die Autorin und Referentin Vera F. Birkenbihl kennen gelernt. Bei den Lehrer-Pilot-Treffen, die regelmässig bei Birkenbihl in Deutschland stattfanden, durften wir aus erster Hand verschiedene Birkenbihl-Methoden kennenlernen und haben viele Hintergrundinformationen zum gehirn-gerechten Lernen und Lehren erhalten. Das Thema und die praxisnahen Methoden haben mich sofort begeistert, denn als Lehrerin an einer Primarschule konnte ich das Gelernte sofort umsetzen. Dazu kam, dass wir zwischen 2005 bis 2010 jeweils das Schweizer Seminar mit Vera F. Birkenbihl organisieren und durchführen durften. So sind mein Mann und ich mehr und mehr in dieses Thema hinein geraten und geben nun unser Wissen seit fast 15 Jahren in Seminaren weiter. Ich sehe es als meine Lebensaufgabe, dass das gehirn-gerechte Lernen und Lehren, insbesondere das Sprachenlernen, in den Schulen ankommt.

 

Wie viele Sprachen sprichst Du fliessend und wie viele Instrumente beherrschst Du?

Ich spreche (Schweizer-)Deutsch, Englisch, Französisch und lerne gerade Spanisch. Zwei Instrumente kann ich ganz passabel spielen, momentan liegt mein Interesse aber nicht auf diesem Gebiet.

 

Brauchst Du APPs um Sprachen zu lernen und wenn ja, welche?

Ich lerne vorwiegend mit der Birkenbihl-Methode® und nutze zurzeit zusätzlich auch das online Programm von «duolingo». In der Kombination mit der Birkenbihl-Methode® kann ich davon profitieren, als alleiniges Lernprogramm hingegen würde ich es nicht empfehlen. Online nutze ich auch Lieder, Filme etc. vor allem dann, wenn ich in einer Sprache schon etwas fortgeschrittener bin.

 

Worum geht es bei der Birkenbihl-Methode?  

Beim herkömmlichen Sprachenlernen werden ausgewählte und isolierte Vokabeln auswendig gelernt und bestimmte Grammatikregeln gepaukt. Bei der Birkenbihl-Methode® werden Vokabeln nicht gepaukt, sondern immer im Kontext eines Satzes innerhalb eines Textes gelernt. Dazu gibt es die sogenannte Dekodierung, in der der Text wortwörtlich übersetzt ist. In der oberen Zeile steht der fremdsprachliche Text, darunter ist jedes einzelne Wort in die deutsche Sprache übersetzt. Hier ein Beispiel:

Wie man an diesem Beispiel sieht, verwendet man beim Dekodieren jeweils dasjenige Wort, das im aktuellen Kontext am besten passt (siehe „like“). Entweder lernt man mit einem fertig aufbereiteten Birkenbihl-Kurs, der schon dekodiert ist oder man erstellt diese Wort-für-Wort-Übersetzung selbst.

 

Die Birkenbihl-Methode® funktioniert in vier Lernschritten, dem Dekodieren, dem aktiven Hören, dem passiven Hören und den Aktivitäten. Statt ausschliesslich bewusst zu lernen, wird mit dieser Methode bewusst und unbewusst gelernt. Der Lernende hört den Text aktiv. Das heisst er hört den fremdsprachlichen Text (vom Sprecher ab Hör-CD oder Lernprogramm, oder von der Lehrperson langsam gesprochen) und liest gleichzeitig in der Dekodierung die deutsche Übersetzungszeile. Bei jedem Wort das der Lernende hört, hat er also sofort die Rückmeldung, was das Wort in seiner Muttersprache (in unserem Beispiel Deutsch) heisst. Dieser Schritt ist dann abgeschlossen, wenn der Text auch ohne die Wort-für-Wort-Übersetzung verstanden wird. Ist dies der Fall wird der entsprechende Hörtext passiv gehört. Der Hörtext läuft in einer Endlosschleife leise im Hintergrund. Bewusst ist der Lernende mit etwas ganz anderem beschäftigt. In dieser Phase werden die Nervenbahnen im Gehirn gefestigt. Durch die vielen unbewussten Wiederholungen verinnerlicht der Lernende den Wortschatz, die Aussprache, die Satzmelodie und abstrahiert ganz nebenbei die entsprechenden Grammatikregeln. Der Lernprozess spielt sich also so oft wie möglich nebenbei ab. Dies ist wohl der grundlegendste Unterschied zum herkömmlichen Sprachenlernen.

 

Auf meinem youtube Kanal gibt es einen Einblick in die vier Lernschritte der Birkenbihl-Methode®. Zudem kann man dort auch Einblick in mein Schulzimmer nehmen und meinen Schülerinnen und Schülern beim Englisch und Französisch lernen zuschauen. Hier sieht man die Schüler vor allem auch bei den Aktivitäten, also dem vierten und letzten Schritt der Methode.

 

 

Wer weitere Informationen zum gehirngerechten Lernen & Lehren bekommen möchte, kann gerne in den verschiedenen «Playlists» stöbern.

 

Wozu eine Zertifizierung?

Wer sich zum zertifizierten Birkenbihl-Sprachlehrer® ausbildet, kennt die Methode als Selbstlerner und hat zusätzlich viele Praxisstunden hinter sich, in denen er Lernende mit dieser Methode begleitet hat. Es braucht Erfahrung und ein gewisses Hintergrundwissen, um Lernende fundiert zu begleiten und auftauchende Fragen beantworten zu können.  

 

Sind diese Ansätze überall anwendbar?

Sobald der Lernende lesen kann, kann er eine Fremdsprache mit den 4 Lernschritten der Birkenbihl-Methode® lernen. Beim Einstieg in die fremde Sprache ist es von Vorteil, wenn man einen fertig dekodierten Birkenbihl-Kurs verwenden kann oder wenn man jemanden zur Seite hat, der die jeweilige Sprache beherrscht. Ich lerne beispielsweise mit meinem Schwiegersohn (Muttersprache Spanisch) im Lerntandem, er lernt Schweizerdeutsch und ich Spanisch. Seine Texte sind also ins Spanische dekodiert und meine ins Deutsche. Zudem können wir so ganz eigene Texte schreiben und aufnehmen, das verstärkt den Lerneffekt zusätzlich.

Grundsätzlich funktioniert die Methode auf allen Schulstufen (ab Lesekompetenz). Ich habe mit der Methode Schüler von der 3. Klasse bis in die Oberstufe und in den Erwachsenenkursen, Menschen bis zum Seniorenalter begleitet. Die Kinder gehen da munter drauf los, bei den älteren Leuten hat sich leider durch die an den Schulen und in Kursen erfahrene Herangehensweise oft schon die Meinung ausgebildet: „Ich habe eben kein Sprachentalent.“ Es ist dann besonders schön mitzuerleben, wie diese Leute aufblühen, wenn sie die ersten Erfolgserlebnisse verbuchen können.

 

Die Vorzüge des passiven Hörens lassen sich auch in anderen Lernbereichen anwenden. Angenommen Du müsstest ziemlich viel Lernstoff zu einem bestimmten Thema verinnerlichen. Wichtig ist zuerst natürlich, dass Du diesen Stoff verstanden hast und allfällige Fragen geklärt sind. Danach kannst Du Dir Texte (aus Arbeitsblättern, Zusammenfassungen, Buchpassagen etc.) auf ein Aufnahmegerät sprechen und dann passiv hören. So kann man einen grossen Teil der Lernarbeit an sein Unterbewusstes abgeben. Selbstverständlich kombiniere ich das passive Hören mit weiteren geeigneten Lernmethoden. Ich könnte zum Beispiel während des passiven Hörens ein Wortbild oder eine ABC-Liste erstellen und die Zeit gleich doppelt nutzen.

 

Was läuft Deiner Meinung nach in der schweizerischen Bildungspolitik oder generell in der Aus- und Weiterbildung falsch und was macht die Schweiz im Vergleich zum Ausland besser?

Wir sollten die Lernenden von Anfang an zum eigenen Denken anregen, statt ihnen «Vorgekautes» vorzusetzen. Ich erlebe immer wieder, dass Lehrpersonen kaum Hintergrundwissen zum Gehirn und den neurologischen Prozessen haben und auch ihr Methodenschatz eher klein ist.

Da ist ihnen kein Vorwurf zu machen, denn an den Pädagogischen Hochschulen wird darauf anscheinend wenig Wert gelegt. Dort nehmen die Erkenntnisse aus der Gehirnforschung leider nur sehr langsam Einfluss, denn alle steckten und stecken immer noch in unserem veralteten Schulsystem.

 

Generell finde ich die ganze Diskussion betreffend zwei Sprachen in der Primarschule absolut überflüssig. Hier sollte endlich die Methode hinterfragt werden, statt die Schuld den Schülern in die Schuhe zu schieben. In meiner Klasse und in den Klassen von anderen Lehrpersonen, die ebenfalls das Schullehrmittel mit der Birkenbihl-Methode® kombinieren, ist von Überforderung jedenfalls nichts zu spüren. In der Schweiz ist sicher das durchlässige Schulsystem ein Pluspunkt und dass einige Kantone Homeschooling erlauben.

 

Was würdest Du direkt ändern?

Damit Lehrpersonen in ihren Schulzimmern gehirn-gerechter Lehren könnten, müssten dementsprechende Methoden bereits an den Pädagogischen Hochschulen gelehrt und auch die Hintergrundinformationen dazu vermittelt werden. Wir hören seit Jahren an unseren Seminartagen: „Warum hat man uns das alles nicht schon in unserer Ausbildung vermittelt?“ Es braucht wohl sehr viel Geduld. Das System wird sich nicht so schnell ändern, denn die Lehrpersonen (und die Dozenten) sind selbst in diesem System ausgebildet worden und kennen es nicht anders.

 

Für mich persönlich gilt: Ich bin als Lehrperson dafür verantwortlich, dass in meinem Schulzimmer die Zeit zum Lernen und Üben genutzt wird und die Schüler eine hohe Methoden-Kompetenz erlangen. Dies möglichst gehirn-gerecht und so, dass alle Lernenden Fortschritte machen und Erfolgserlebnisse verbuchen können. Wenn wir die vielen Stunden in der Schule richtig nutzen, dann braucht es wenige bis keine Hausaufgaben. Die Kinder und Jugendlichen sollen nach Schulschluss Zeit für andere Aktivitäten haben.

 

Auch wenn ich im gegenwärtigen Schulsystem  nicht alles gut finde, kann ich in meinem Schulzimmer einiges bewegen und Gegensteuer geben. Wenn alle nur warten, dass sich das System ändert, kommen wir noch lange nicht weiter.

 

Was denkst Du über Flocabulary

 

Bei «Flocabulary» wird unter anderem wie beim passiven Hören der Neuro-Mechanismus des incidentalen Lernens, also des Lernens nebenbei, genutzt. Zudem erreicht man durch die Form des Raps, dass sich die (meisten) Jugendlichen angesprochen fühlen, welche dann nebenbei beispielsweise die «17 Sustainable Development Goals» verinnerlichen. Vorausgesetzt ihnen gefällt der Rap so gut, dass sie diesen oft hören. Ob dieser oder jener Inhalt für mich als Lerner Sinn macht, muss jeder selber entscheiden.

Das angegebene Beispiel würde sich auch gut zum Englisch lernen eignen. Hierzu würde ich die mir unbekannten Wörter übersetzen und dann aktiv und passiv hören. Auf der Seite von Flocabulary geht es aber anscheinend eher um den jeweiligen Inhalt, als um die Sprache selbst.

 

Wäre so etwas in der Schweiz auch machbar?

Klar, warum nicht. Das kann eine Bereicherung sein. Ich würde meinen Lernenden aber niemals jeden Inhalt immer wieder auf dieselbe Art und Weise vorsetzen wollen. Ich finde es wichtig, dass Schüler viele verschiedene Lernmethoden kennenlernen und regelmässig die Gelegenheit erhalten, diese direkt im Schulzimmer anwenden zu können. Nur so können sie später aus den verschiedenen Methoden die für sie richtige auswählen. Meine Klassen lernen nicht nur die Birkenbihl-Sprachlernmethoden kennen, sondern einige weitere wie die ABC-Listen, Wortbilder, Mäntylä-Listen etc. Bei «Flocabulary» kann sich jeder das holen, was er gerade braucht, ob Lehrer oder Schüler. Und online kann man für die Methodenvielfalt ja einige Quellen anzapfen.

 

Wie sieht die Schule der Zukunft aus?

Ich denke, dass es die Schule, so wie wir sie kennen nicht mehr geben wird. Vielleicht werden sogar Schulgebäude ganz überflüssig, weil die Lernenden an anderen Lernorten lernen. Lerngelegenheiten gibt es ja überall. Auch denke ich, dass das schulische Lernen über YouTube oder ähnliche Kanäle an Bedeutung gewinnen wird. Ein Lernender würde bereits heute beispielsweise Mathematik besser mit einem Lernprogramm am Computer lernen, statt in einer Klasse zu sitzen für die es vom Lernniveau her für die einen Schüler viel zu leicht, für die anderen zu schwierig und nur für die wenigsten gerade richtig ist. Lernprogramme werden in Zukunft auf den Lernenden zugeschnitten sein und nur bei grösseren Problemen oder Fragen wird noch der Lehrer zur Seite stehen. Das sehe ich so für Inhalte, die vor allem auf «Können» beruhen, wie Mathe, Rechtschreibung und Sprachenlernen. Zusätzlich werden diese Fächer in der Zukunft (hoffentlich) noch mehr mit dem realen Leben verknüpft werden.

Bei Wissensthemen denke ich, dass die Schüler auch in der Zukunft gemeinsam lernen werden, denn der Austausch untereinander ist immens wichtig für den Lernprozess. Ich wünsche mir, dass in Zukunft altersdurchmischtes Lernen als ganz normal gilt und die Kinder wieder mehr voneinander lernen können, denn das können sie von Natur aus sehr gut.

Und in meiner Traum-Schule der Zukunft wird der Schüler in Mathe und Deutsch genauso gefördert wie in Theaterspiel, Tanz oder Rap.

Vielen Dank für diese interessanten Erklärungen über die Birkenbihl-Methode.

Vor welche Probleme werden unsere Kinder gestellt und wie können wir sie am besten auf diese vorbereiten? In folgendem Video von Clixoom – Science & Fiction wird diese Frage sehr gut ausgeleuchtet:

Die Schule der Zukunft – Clixoom Science & Fiction

 

Die Schule ist also im Aufbruch

Eine Lernkultur der Potenzialentfaltung erfordert eine echte, oftmals tiefgreifende Transformation all dessen, wie zusammen gelernt und gearbeitet wird. Diese Transformation kann abrupt und schnell sein (beispielsweise: Wir machen nach den Sommerferien im neuen System auf) oder kontinuierlich und begleitend (beispielsweise: wir führen nach und nach neue Elemente ein und verabschieden uns zeitgleich auch immer von etwas). Sie kann ein System erschüttern oder organisch wachsen, unabhängig von der Vorgehensweise jedoch wird es Zeit brauchen, bis für alle das Neue das Normale ist.

Schule im Aufbruch steht für die Ganzheitlichkeit der Veränderung, für die Verzahnung einer Lernkultur der Potenzialentfaltung mit einer Organisationskultur der Potenzialentfaltung, umgesetzt in einer Transformationskultur der Potenzialentfaltung.

 

https://schule-im-aufbruch.de/

Tending the Wild #documentary

Gutes Leben – ohne Konsum?