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Ganz schön tödlich

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April 14, 2013libellesonntagszeitung2733Views

libelle

Ganz schön tödlich

 

Libellen sind die effizientesten Jäger im Tierreich – dank selektiver Wahrnehmung

Von Natalie Angier

Sein furchteinflössendes Brüllen und das stolze Gehabe macht den afrikanischen Löwen zum König der Raubtiere. Doch mit etwas Glück fängt er 25 Prozent der Beute, die er jagt. Libellen hingegen wirken eher zierlich. Mit ihrem farbigen Glanz sehen sie aus wie kostümierte Edelsteine. Und sie zählen mit Schmetterlingen und Marienkäfern zur Liste jener wenigen Insekten, die Menschen mögen.

Dabei sind auch Libellen gefrässige Räuber. Und neue Forschungsergebnisse legen nahe, dass sie wohl die effizientesten Jäger im Tierreich sind. Wenn sie andere Insekten jagen, sind Libellen in der Lage, ihre Zielobjekte in mehr als 95 Prozent der Fälle zu erlegen. Oft verschlingen sie ihren Fang im Flug. «Sie zerreissen ihre Beute und vermanschen sie zu einem Klumpen», sagt Michael May, emeritierter Professor für Insektenkunde von der Rutgers University im US-Bundesstaat New Jersey. «Die Beute sieht fast aus wie eine Prise Schnupftabak, bevor sie sie verschlingen.»

In etlichen neuen Publikationen haben Wissenschaftler einige zentrale Eigenschaften der Augen, Flügel und Gehirne untersucht, die den Libellen ihre treffsichere Jagd erlauben. So fand ein Forscherteam heraus, dass das Nervensystem der Insekten demjenigen des Menschen in einem Punkt fast ebenbürtig ist: in der selektiven Wahrnehmung. Andere Forscher haben ein zentrales Netzwerk aus 16 Nervenzellen (Neuronen) identifiziert, welches das Gehirn der Libelle mit dem Zentrum des «Flugmotors» in der Brust verknüpft. Mithilfe dieses Schaltkreises kann eine Libelle ein bewegliches Ziel verfolgen, dessen Flugbahn berechnen und es an einem Punkt im Raum zielgenau treffen.

Weiter fanden Wissenschaftler Hinweise, dass eine Libelle den Angriff einfach und doch raffiniert durchführt: Wenn sie sich der «Mahlzeit» nähert, behält sie diese immer am selben Punkt im Gesichtsfeld. «Das Bild der Beute wird grösser. Aber wenn es sich immer am selben Ort der Netzhaut befindet, wird die Libelle notgedrungen auf ihr Ziel treffen», sagt Paloma Gonzalez-Bellido vom Marine Biological Laboratory in Woods Hole im US-Staat Massachusetts, Autorin von einem der Fachartikel.

Meist merkt die Beute nichts von der Gefahr – bis es zu spät ist. «Zuerst dachte ich, es handle sich um aktive Jagd, so wie ein Löwe einer Antilope nachstellt», sagt Stacey Combes von der Harvard University. «Aber es ist eher ein Angriff aus dem Hinterhalt. Die Libelle kommt von hinten unten, und die Beute weiss nicht, was sich da nähert.».

Libellen sind die Insekten mit den schärfsten Augen

Libellen sind grossartige Luftakrobaten, sie können wie Hubschrauber an Ort und Stelle schweben, rückwärts und auf dem Rücken fliegen sowie Sturzflüge absolvieren. Sie erreichen Geschwindigkeiten von rund 50 Kilometern in der Stunde, blitzschnell für einen Gliederfüssler. Im Gegensatz zu den meisten anderen Insekten sind die vier transparenten Flügel der Libellen mit separaten Muskeln am Brustkorb befestigt und können sich daher einzeln bewegen. Das verleiht den Insekten ein aussergewöhnliches Repertoire an Flugmanövern. «Eine Libelle kann einen ganzen Flügel verlieren und dennoch Beute fangen», sagt Combes.

Libellen sind auch wahre Hellseher. Sie besitzen die grössten und schärfsten Augen im Reich der Insekten: ein Paar gigantischer «Kugeln», jeweils bestehend aus rund 30 000 Facettenaugen, die zusammen fast den ganzen Kopf bedecken. «Sie haben ein Rundum-Gesichtsfeld», sagt Robert Olberg vom Union College, der in den «Proceedings of the National Academy of Sciences» über seine Forschungsresultate berichtete.

Ihre anderen Sinne sind dagegen etwas verkümmert. Libellen können nicht wirklich hören, und ihre stoppeligen kleinen Antennen taugen kaum zum Riechen oder für ein Liebesspiel, das auf Pheromonen basiert.

Für Neurowissenschaftler sind Libellen wegen ihrer Grösse besonders attraktiv. «So ist es viel einfacher, kleine Elektroden in ein einzelnes Neuron zu stechen und dessen Aktivität im Gehirn zu messen», sagt Steven Wiederman von der University of Adelaide in Australien. Wiederman und ein Kollege berichten in «Current Biology», wie Libellen ein einzelnes Ziel inmitten eines chaotischen Schwarms isolieren. Dazu arbeiteten sie mit den fünf Zentimeter langen Smaragdlibellen (Somatochlora hineana) und setzten eine Elektrode, 1500-mal dünner als ein menschliches Haar, in eine Nervenzelle ein, von der man wusste, dass sie bei der Verarbeitung visueller Reize involviert ist. Dann positionierten sie die Libellen vor einen Bildschirm und zeigten ihnen erst ein sich bewegendes virtuelles Beutetier und dann deren zwei.

Auf Reize reagieren Libellen so selektiv wie Primaten

Die Wissenschaftler erwarteten, dass das untersuchte Neuron einer Libelle so auf die zwei Zielobjekte reagieren würde, wie man es von einfachen Organismen her kennt: Mit dem Auftauchen des zweiten Ziels wird ein Teil der Aufmerksamkeit vom ersten Ziel abgezogen. Die Forscher waren daher erstaunt, dass die Libelle stattdessen auf mehrere Reize genau so reagierte, wie man es von Primaten her kennt: Sie konzentrierten sich weiterhin auf das erste Ziel und ignorierten das zweite. Wenn ihre Aufmerksamkeit auf Ziel B wechselte, dann komplett und auch wieder komplett zurück auf Ziel A – das entspricht der menschlichen Fähigkeit, aus einem Stimmengewirr gezielt die Stimme des einen und dann des anderen Gesprächspartners herauszufiltern und das Hintergrundgeplapper auszublenden.

«Das legt nahe, dass es sich um einen Prozess der selektiven Wahrnehmung handelt, wie wir ihn normalerweise mit höherer Denkleistung assoziieren», sagt Wiederman. «Hier haben wir also ein einfaches Gehirn mit weniger als einer Million Neuronen, das sich verhält wie unser Hirn mit 100 Milliarden Neuronen.»

Da überrascht es kaum, dass das US-Verteidigungsministerium die Erforschung der Libelle unterstützt. Denn für das Militär ist das Insekt vor allem eins: ein Musterbeispiel einer Präzisionsdrohne.

© «New York Times», Übersetzung: Joachim Laukenmann

Publiziert am 14.04.2013

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